Bestandsaufnahme 2012 - Teil II

Zum Selbstverständnis der sächsischen Soziokultur

Vortrag auf dem 3. Sächsischen Fachtag Soziokultur/ 29.11.2012/ Kulturfabrik Leipzig

Bild: Anne Pallas (Foto: Kathrin Weigel)

 

Anne Pallas
Geschäftsführerin Landesverband Soziokultur Sachsen e.V.

 

 
Sehr geehrte Damen und Herren,

 

wir starten jetzt mit dem zweiten Teil der Bestandsaufnahme und ich bin mir sicher, dass ich Herrn Göschels Befürchtung einer tendenziell selbstreferentiellen Programmatik entkräften kann. Ich möchte zu Beginn unsere Mitglieder sprechen lassen und beginne mit drei Zitaten:

„Soziokultur ist das, was die Leute früher auf dem Markt gemacht haben." (Interview 7)

„Soziokultur ist für uns immer eine leere weiße Schachtel." (Interview 31)

„Soziokultur ist ein humanistisches Prinzip – zum Menschen hingezogen. Daraus leitet sich alles ab,
den Mensch in seiner Lebenswirklichkeit in seinem Raum aufzunehmen."
(Interview 21)

Soziokultur zu beschreiben ist nicht so einfach – treffende Formulierungen lassen sich finden, klären aber noch keinen Begriff. Viele kennen das sicher aus der Praxis. 20 Jahre nach Einführung der Soziokultur in Sachsen herrscht noch immer Unsicherheit mit der Semantik des Begriffs. Wirklich fassbar scheint es noch immer nicht zu sein, was wir hier machen. Ein Geschäftsführer drückte das so aus: „Ich brauche zu viele Worte, knackige 5-Zeilen-Beschreibung mit Worten, die man auch ohne Soziologiestudium versteht, wären gut." (Interview 14)
Eine Annäherung an den Begriff Soziokultur kann daher zunächst nur empirisch erfolgen.  Der zweite Teil der Bestandsaufnahme beschäftigt sich mit dem Selbstverständnis der Akteure.
Dazu habe ich von Mai 2011 bis Juni 2012 fast alle Mitgliedszentren besucht und mit den Verantwortlichen leitfadengestützte Interviews geführt. Ein Teil fragte nach den Einstellungen und Erfahrungen zur soziokulturellen Programmatik und deren Begriffsverständnis. Dieser Teil wurde digital dokumentiert und transkribiert. Zudem hatten wir alle Satzungen nach ihrem Satzungszweck hin analysiert.
Diese Unmenge an Daten, Eindrücken, Erkenntnissen und neu aufgeworfenen Fragen haben wir zum Teil inhaltsanalytisch ausgewertet  und teilweise auch im Rahmen von Kamingesprächen und Vorstandssitzungen diskutiert. Was ich Ihnen heute vorstelle, ist daher kein Endprodukt oder ein klassisches Ergebnis, sondern eine Beschreibung von Vorstellungen und Ansätzen, die dennoch eine Systematik begründen.
Zunächst spielen die Gründungsanlässe der Zentren eine entscheidende Rolle für das heute wirkende Selbstverständnis der Akteure.
Der häufigste Grund für eine Vereinsgründung war nach 1989 die Notwendigkeit einer rechtssicheren Trägerschaft, um beispielsweise Fördergelder erhalten zu können. Formal ist das logisch. Die Besonderheit liegt darin, dass die Vereinsgründungen vieler Zentren Anfang der 90er Jahre von der Verwaltung, aber auch von politischen Akteuren mit angestoßen und gefördert wurden. Die erste Gruppe, die somit Unterstützung erhielt sind neue (jugend-) kulturelle und kulturpädagogische Initiativen.
Eine zweite große Gruppe sind die Vereine, die aus Bürgerbewegungen heraus entstanden sind und damit dem demokratischen Aufbruch zuzuordnen sind. Auch diese Gruppe erhielt in den 90er Jahren politische Unterstützung, weil eine realistische Hoffnung bestand, solche Bürgervereine könnten die nachträgliche Demokratisierung der Bevölkerung befördern.
Eine dritte Gruppe bildeten die ehemaligen DDR-Kulturhäuser und Jugendclubs, die zuerst noch in kommunaler Trägerschaft sukzessive in freie Trägerschaften überführt wurden und Kulturarbeit nun freiheitlich fortsetzen konnten.

In dieser Historie begründet sich im Selbstverständnis der Akteure die Unterstützung durch die öffentliche Hand. Schließlich hatte diese den Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft entscheidend mitbefördert und gestaltet. Bei keiner meiner Befragungen hatte ich daher den Eindruck, dass es ein Wert an sich sei, ohne öffentliche Gelder auszukommen. Etwa, weil man dann unabhängig wäre. In dieser Logik gaben auch fast 90% der Befragten an, dass sie sich heute als kultureller Dienstleister empfinden. Darüber hinaus als Orte gesellschaftlichen und sozialpolitischen Wirkens. In dieses Bild passt auch die Einschätzung der Geschäftsführer, die sich unabhängig ihres beruflichen Hintergrundes mehrheitlich als Kulturmanager fühlen und ganz pragmatisch einen Ort managen, an dem Kultur stattfindet. Ich möchte noch einmal auf Herrn Göschels Beobachtung eingehen, welche eine eher selbstreferentielle Programmatik beschreibt beziehungsweise auch als „Klientelbespaßung" interpretiert werden könnte. Möglicherweise stützt sich diese Beobachtung auf die westlich geprägte Soziokultur, die in ihrer Genese einer ganz anderen Geschichte unterliegt als in Ostdeutschland. Bei meinen Besuchen in den sächsischen Zentren ist das Bewusstsein für den öffentlichen Auftrag sehr deutlich geworden. Darin begründete sich auch ein professioneller Abstand zum Arbeitsfeld. Es ist also keineswegs so, dass Programme angeboten werden, die den Vorlieben der Macher entspringen, sondern als Dienstleistung am Gemeinwesen betrachtet werden.
Die Frage, ob die Zentren ihre Arbeit als alternativ einschätzen würden, verneinte die überwiegende Mehrheit. Der Zeitgeist der Gründungsjahre evozierte ja nie das Gefühl, eine Alternative zu etwas Bestehendem entwickeln zu müssen, sondern es ging darum, etwas Neues mit aufzubauen. Die klassischen Antagonismen zwischen Hoch- und Breitenkultur spielten in der sächsischen Soziokultur daher praktisch keine Rolle. Das zeigt sich auch heute im Verständnis, wonach 2/3 der Befragten die Soziokultur als Ergänzung zu anderen Kulturangeboten sehen.
Auf die Frage, ob man sich als kritisch bezeichnen würde, antworteten nahezu alle, dass es sich um eine gesellschaftskritische, couragierte Haltung handeln würde. Einige benannten dies noch pragmatischer, indem sie angaben, dass ihre Häuer vor allem Orte sind, an denen über Gesellschaft gestritten werden könne. Sie dafür aber nur die Infrastruktur böten und sich ansonsten raus hielten.

In der Soziokultur sprechen wir von einer Verknüpfung von Kultur-, Bildungs- und Sozialarbeit. Dabei unterstrich die Befragung noch einmal deutlich, dass sich die Akteure federführend in der Kulturarbeit sehen. Dass die Elemente des Sozialen und der Bildung hier stark verortet sind, liegt an dem Anspruch, vordergründig Gesellschaft, nicht unbedingt Kunst, gestalten zu wollen. In dieser Tradition befand sich schon das künstlerische Volksschaffen der DDR, welches mit den Mitteln der Kunst den neuen Menschen zu erziehen hoffte.
Die Künste sind in der Soziokultur aber nicht nur Mittel zum Zweck – für Bildung, für Gemeinschaft, für Toleranz. Sie sind der Kitt, der die Teilbereiche zusammenhält und geben dem Alltäglichen damit eine Aura des Besonderen. Dem kurativen Element der Soziokultur setzt die Kunst das Freiheitsmoment entgegen. Oder wie das einer unserer Geschäftsführer sagte: „Es geht darum zu begreifen, dass der Mensch über die Kunst die Möglichkeit hat, frei zu sein." (Interview 4) Das ist es, was die Aura der Häuser ausmacht und sie von klassischer Sozialarbeit unterscheidet.

Dieser Anspruch – Gesellschaft zu gestalten mit den Mitteln der Kunst – spiegelt sich auch im Ranking der Arbeitsfelder wider. Wir hatten unsere Geschäftsführer gebeten, die im Kriterienkatalog genannten Arbeitsfelder zu priorisieren. Das künstlerische und kreative Schaffen aller Sparten, die offene Kommunikation und Begegnung sowie die kulturelle und politische Bildung stehen dabei an erster Stelle. An zweiter Stelle stehen Demokratieentwicklung, Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit und das generations-übergreifende Arbeiten. Von mehr als der Hälfte der Befragten wurden diese Betätigungsfelder für ein Soziokulturelles Zentrum als zwingend angesehen. Diese Auflistung zeigt sich auch in den Satzungszwecken, wonach Kunst und Kultur, Begegnung, Kommunikation, Demokratie, Engagementförderung, Bildung und Jugendarbeit im Vordergrund stehen.

Im Konkreten wissen unsere Zentren somit genau, was sie wollen und wie sie dies umsetzen. Eine Umschreibung des Begriffs Soziokultur bleibt dabei dennoch vage. Fast alle gaben an, dass sie Probleme hätten der Bevölkerung Soziokultur zu erklären oder die Erfahrung machten, dass die Menschen mit dem Begriff nichts anfangen können.
Die Leipziger Akteure haben dem eine Werbekampagne entgegengesetzt, um den Begriff Soziokultur mit bekannten Einrichtungen der Soziokultur in Verbindung zu bringen. Der Begriff hat in Sachsen eben noch keine eigene Geschichte. So umschreiben einige der Akteure ihre Arbeit auch mit der Arbeit der Kulturhäuser in der DDR. Zwei Geschäftsführer gaben auch an, dass sie zur Erklärung ihres Berufes oft sagten, sie seien so etwas, wie ein Kulturhausleiter. Das kennen und verstehen die Leute. Wäre die negative Konnotation des Begriffs „Kulturhaus" mit der ehemaligen DDR nicht so stark, würden sich viele unserer Zentren auch heute unter dieser Bezeichnung wiederfinden.

Was also ist Soziokultur im sächsischen Verständnis?

„Soziokultur ist die Möglichkeit, institutionell innerhalb einer festgeschriebenen Region ein Abbild der existierenden Gesellschaft zu geben." (Interview 10) sagte einer unserer Geschäftsführer.
Oder: „Bei der reinen Kunst bemüht sich der Mensch nur um sich selbst. Die Soziokultur bemüht sich um den Menschen und wird so zur Kultur." (Interview 26)
Und das letzte Zitat: „Kultur bildet uns in unserem Menschsein – ich bin überzeugt, dass der Wert von Kunst und Kultur im alltäglichen Leben ein Indikator für die Entwicklung dieser Zivilisation ist." (Interview 27)

Anhand dieser O-Ton-Auswahl wird deutlich, dass wir zwischen einem Motiv und der Praxis unterscheiden müssen. Im Motiv findet sich ganz stark das humanistische Prinzip wieder. Es geht um den Menschen und mit ihm geht es vor allem um die Gesellschaft, also den Verbund in welchem wir leben, Gemeinschaften bilden, Strukturen und Systeme entwickelt haben sowie eine Art des Umgangs – unsere Kultur eben. Darin mündet ein weiter Kulturbegriff, der sich auch in dem Anspruch wiederfindet, Gesellschaft gestalten zu wollen.

Soziokultur in Sachsen ist dabei ganz und gar nicht individualistisch angelegt. Der Gemeinschaftsgedanke spielt eine herausragende Rolle. Kommunikation und Begegnung, Achtsamkeit, Verständnis, Courage, Aufrichtigkeit füreinander – ich spreche hier natürlich von einem Ideal. Aber dieses Ideal ist handlungsleitend. Wir haben das auch bei der Bestandsaufnahme vorhin ableiten können, wenn es etwa um die Verweildauer der Mitarbeiter ging. Natürlich wirkt dieses Prinzip auch auf das Arbeitsleben und schafft ein gutes Arbeitsklima. Dieses Fundament, das Menschen- und Gesellschaftsbild, was uns alle eint, könnte man auch als Vision bezeichnen. Die Mission lässt sich dann schon konkreter ableiten. Es geht darum, Kultur zu vermitteln, Menschen zu befähigen, sich Kultur anzueignen, sie zu gestalten und zu entdecken. Dieses Vermitteln gelingt am besten über das eigene künstlerische Schaffen. Der Auftrag dahinter ist, ein aktives Kulturerleben zu ermöglichen. Neben dem gedanklichen Überbau – sei es nun ein Motiv, eine Vision oder Mission – hatten wir das Ziel, den Charakter der sächsischen Soziokultur näher bestimmen zu können. Anhand vieler Gespräche mit unseren Zentren ließen sich vor allem zwei Charakteristiken ableiten, die zugleich Einblicke in das Selbstverständnis der sächsischen Soziokultur geben.

Als erste maßgebliche Charakteristik weisen unsere Zentren als Kultureinrichtungen einen starken Gemeinwesenbezug auf. Das empfinden auch fast 90% der Befragten so. Diese Charakteristik leitet sich direkt von der eben beschriebenen Vision ab. Nämlich auf und in die Gesellschaft wirken zu wollen. Das Gemeinwesen als das kleinste Teilsystem von Gesellschaft ist daher der Austragungsort soziokultureller Ansätze.
Analytisch gesprochen bedeutet das, dass sich unsere Zentren in Form und Inhalt vor allem deshalb voneinander unterscheiden, weil sie unterschiedlichen Sozialräumen angehören. Von experimentell-urban bis bodenständig-kleinstädtisch spiegeln die Häuser in ihrer Programmatik das jeweilige gesellschaftliche Umfeld wieder. Anders würden die Häuser auch gar nicht funktionieren. Demzufolge stimmten auch 70% der Befragten der Aussage zu, dass sich ihre Programmgestaltung immer an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.

Aus dieser Charakteristik lassen sich weitere Merkmale der soziokulturellen Arbeit ableiten. Schlagworthaft wird das gern umschrieben mit dem Slogan „Kultur für alle". Die Mehrheit empfindet diesen Ausspruch als handlungsleitend, wenngleich in Kenntnis der Realität nicht von einem wirklichen Ziel gesprochen werden kann. Alle werden nie erreicht. Mit Einschränkungen etwa – „für alle die es wollen" oder bevorzugten Formulierungen wie „Kultur durch alle" oder „Kultur für jeden" gibt es eine sehr kritische Auseinandersetzung darüber. Diese reicht bis hin zu völliger Ablehnung. Hier steht „Kultur für alle" als Sinnbild für Beliebigkeit oder impliziert einen Kulturkanon. Ein Befragter äußerte, dass „Kultur für alle" eher nach Aldi Marke klinge. Treffender vielleicht noch der Ausspruch eines Geschäftsführers: „Eines jeden Recht getan, ist eine Kunst, die keiner kann". Dieses Zitat beschreibt übrigens die Moral aus Johann Peter Hebels „Spazierritt".
Dennoch geht es darum, möglichst viele Menschen anzusprechen. Dabei ist Soziokultur auch aufsuchende Kulturarbeit – besonders wenn es um Kinder und Jugendliche geht, denen der Kontakt mit Kultur tendenziell verwehrt bleibt.

Brechen wir den Gedanken noch weiter herunter, erschließt sich ein weiteres Merkmal soziokultureller Arbeit. Nämlich die Spartendurchmischung. Lange Zeit wurde behauptet, dass dies vor allem einer künstlerischen Logik folgt. Dabei werden durch vielfältige Kulturangebote vor allem die Chancen erhöht, möglichst viele Menschen mit ihren jeweils unterschiedlichen Geschmackspräferenzen erreichen zu können. Das führt dann zu einer Programmmischung von Klassik bis Punk, von eher chaotisch anmutenden Formaten bis hin zu barrierefreien Angeboten mit großem Kümmerfaktor. Dass kein Zentrum jeweils nur Musik oder Theater anbietet, sondern alle künstlerischen Genre bedient, liegt auch daran, dass es tendenziell um Zugänge geht – nicht um das Erleben einer hochspezialisierten Kunstform.
Das drückt sich besonders deutlich in den Bereichen aus, welche auf die künstlerische Beteiligung der Laien setzen – beispielhaft in soziokulturellen Projekten. Sie erinnern sich, ich stellte Ihnen vorhin die Formate vor, in welchen Projekte schwerpunktmäßig stattfinden. Im Durchschnitt wurden mehr als die Hälfte der Projekte in jeweils drei verschiedenen Formaten – also künstlerischen Genres durchgeführt.
Es geht also nicht primär darum, ein Spitzenprodukt zu erzeugen, sondern um den kulturellen Austausch hin zu dem Produkt. Deswegen fließen alle künstlerischen Ausdrucksformen selbstverständlich zusammen. Darin kommt ein weiteres Merkmal der Soziokultur zum Ausdruck, nämlich die Prozessorientierung, die das eigentliche Produkt hinter den Prozess der Entstehung stellt. Plastisch beschreibt das ein Verantwortlicher so: „Wenn ich ein Hörspiel produziere mit 10 Kindern, 3 Tage á 5 Stunden – bei den Schülern sind das 150 Stunden und nur drei Minuten Hörspiel raus kommt – geht es klar nur um den Prozess." (Interview 26)

Eine zweite Charakteristik ist weniger offensichtlich, dafür umso merkmalsgebender. Es geht um Offenheit, die als zentrale Handlungsmaxime auch aus Vision und Mission ableitbar ist. Dazu gehören zum Beispiel die Verhandelbarkeit der Programme und die damit verbundenen Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger. Über 80% der Befragten stimmten der Aussage zu, dass in ihrem Haus jeder eigene Programm- und Projektideen einbringen könnte. In dieser Offenheit liegt auch der Anspruch – wenn nicht alle, so doch viele zu erreichen und für alle offen zu sein – genauso, wie für alle Themen, Ausdrucksformen und Ideen offen zu sein. Nicht zuletzt steht diese Offenheit auch für das Andocken noch nicht etablierter Kunstformen, Experimentellem und Unerprobtem generell.
Offenheit beschreibt aber nicht nur ein Funktionsprinzip, sondern ist auch eine habituelle Grundeinstellung. Es geht darum, möglichst geringe oder keine Hürden zur Angebotswahrnehmung zu haben. Dazu zählen flache Hierarchien, auch das Kommunikationsgeschick der Mitarbeiter sowie eine Atmosphäre des Willkommens.
In dieser Offenheit liegt auch der Schlüssel für bürgerschaftliches Engagement – offene und transparente Strukturen; das Gefühl, mal ein Wort wechseln zu können, ernst genommen zu werden. All das erfordert einen Habitus der Offenheit. Dabei war die Offenheit die Charakteristik, die mir fast niemand nennen konnte, weil sie als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wurde. Die inhaltsanalytische Auswertung der Befragung führte schließlich zu diesem Ergebnis und benennt hier ein Alleinstellungsmerkmal der Soziokultur unter allen Kultureinrichtungen.
Mit dieser Analyse würde ich die Soziokultur in Sachsen als systemstabilisierend bezeichnen, gerade weil es eine kritische Auseinandersetzung mit Gesellschaft gibt, das Gemeinwesen Referenzfläche ist, Bildung einem humanistischen Prinzip folgt und der Ansatz existiert, für alle Menschen da sein zu wollen. Ich habe bei meinen Besuchen auch kaum ideologische Schranken vorgefunden, stattdessen einen recht pragmatischen Begriff von Kulturarbeit. Umso verwunderlicher ist es dann, dass in manchen Regionen Sachsens immer noch Vorbehalte existieren. Die Konnotationen über Soziokultur reichen von selbstreferentieller Müsliromantik bis hin zur Freizeitbespaßung delinquenter Jugendlicher. Das ist abwegig, wenn man bedenkt, was soziokulturelle Zentren leisten, dass sie Aufgaben der Daseinsvorsorge übernehmen – etwa im Bereich der Jugendarbeit oder als starke Partner von Schulen, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Blick haben und ganz nebenbei den künstlerischen Nachwuchs und das kulturelle Interesse der Bürger fördern.

Ein Geschäftsführer berichtete so von seinen Nöten: „Wir bewegen uns in einem Laufrädchen im Rattenkäfig, schon lange. Das unterminiert auch das schöpferische und kreative Potenzial, das ja eigentlich da ist." (Interview 1)
An anderer Stelle heißt es: „Wir müssen uns immer wieder rechtfertigen, ob wir nun Jugendarbeit oder Kulturarbeit machen." (Interview 11)

Dabei ist die Jugendarbeit in Sachsen ein integraler Bestandteil der Soziokultur. Hinter dieser Einschätzung steht auch die Mehrheit der Zentren. Unsere Förderstruktur suggeriert uns dieses Trennbild leider immer wieder. Obwohl Soziokultur selbstverständlich auch Jugendarbeit ist – wie auch Altenarbeit. Nicht umsonst sind die Ansätze der Jugendarbeit nahezu identisch mit denen der Soziokultur – etwa der Gemeinwesenbezug, die Förderung bürgerschaftlicher Engagementformen, Bildung und Freiräume oder die Projektmethode. Die Soziokultur qualifiziert diesen Bereich und lässt Jugendliche mit allen Generationen ins Gespräch kommen. Sie kann auch auf Grund ihres Wirkens als Kulturinstitution die kulturellen Aspekte in der Jugendarbeit viel stärker betonen.

Kommen wir noch einmal zum Ausgang zurück. Es ging um die Frage nach dem Selbstverständnis der sächsischen Soziokultur und dem Wunsch, „Soziokultur" kurz erklären zu können. Diesen Wunsch kann ich leider auch nicht erfüllen. Ein Gedanke dazu: Stellen Sie sich einmal vor, sie müssten jemanden den Begriff „Literatur" erklären, der noch nie etwas davon gehört hat. Ich denke, sie hätten das gleiche Problem. Die Soziokultur ist in Sachsen eben erst 20 Jahre alt, wenngleich die eigentliche Geschichte dieser Kulturpraxis viel weiter zurück reicht. Für ein alltagsnahes Begriffsverständnis für Soziokultur braucht es noch Zeit.

Ich versuche, das Gesagte noch einmal zu fokussieren: Soziokultur in Sachsen ist vor allem eine bürgernahe Kulturarbeit. Dieser Satz ist so selbstverständlich, dass ich ihn eigentlich nicht mehr erwähnen muss und er somit auch eine 100%ige Zustimmung unserer Befragten erhielt. Soziokultur beschreibt also eine institutionalisierte Kulturarbeit mit konkreten Aufgaben. Nämlich:

  • als Kultureinrichtung mit einem starken Gemeinwesenbezug direkt in den Sozialraum zu wirken und  die Bedürfnisse der Menschen in den Blick zu nehmen.
  • Mit dem Charakter und dem Funktionsprinzip der Offenheit, die Beteiligung von Bürgern sowohl künstlerisch  als auch gestalterisch im Sinne des Gemeinwesens zu befördern.
  • Kunst und Kultur als Kernbereich von Bildung im humanistischen Sinne zu interpretieren und demgemäß auch die kulturelle Bildung zu fördern.
  • Austragungsort für kritisch-konstruktive Auseinandersetzungen über Gesellschaft zu sein.

Hinter diesen Profilbildern steht ein weiter Kulturbegriff, der Kunst und Zivilisation zu Kultur vereint. Soziokultur in Sachsen ist damit keine „Klientelbespaßung" und auch keine Gegenkultur. Im Gegenteil ist sie im wirklichen Sinne eine Teilhabekultur, die Gesellschaft als Ganzes im Blick hat. Soziokultur ist damit alles andere als ein Gemischtwarenladen. Im Gegenteil besteht unter unseren Mitgliedern das klare Bekenntnis zur Profilbildung (90% Zustimmung), weiterer Professionalisierung (über 80% Zustimmung) und zur öffentlichen Förderung nach dem Leistungsprinzip statt nach dem Gießkannenprinzip (80% Zustimmung). Auch das gehört zum Selbstverständnis, dass sich die Akteure darüber im Klaren sind, dass Professionalisierung zunächst im Kopf beginnt und eine Abkehr von Mythos und Ideologie bedeutet.

Diese erste Zusammenstellung der Ergebnisse wird auch die Grundlage bilden für das im nächsten Jahr zu entwickelnde Leitbild des Landesverbandes. Auch dafür hat sich die deutliche Mehrheit der Mitglieder ausgesprochen.

Ich denke, dass wir in Sachsen selbstbewusst auftreten dürfen, weil wir auch kommunale Aufgaben übernehmen, die eine Kommune gar nicht leisten kann. Wir brauchen daher keine Subventionen als Hilfe verstanden, sondern eine öffentliche Förderung auf Augenhöhe. Und, wir wünschen uns gute und konstruktive Partnerschaften mit den Städten und Gemeinden, damit wir gemeinsam Gesellschaft gestalten können.

Vielen Dank!

 

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