Aufbruchphase

Reflexion der ersten 10 Jahre Soziokultur in Sachsen

Vortrag auf dem 3. Sächsischen Fachtag Soziokultur am 29.11.2012Bild: Grit Hanneforth

Grit Hanneforth
ehem. Geschäftsführerin Landesverband Soziokultur Sachsen (1995-2001); Geschäftsführerin Kulturbüro Sachsen e.V.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe ehemalige Kolleg_innen, liebe Freunde,

 

ich bedanke mich sehr herzlich, dass ich als ehemalige Geschäftsführerin der LAG Soziokultur eingeladen bin, um hier eine kurze Reflexion zu den 90er Jahren zu geben, die vom Aufbau dessen, was wir heute als Soziokultur in Sachsen kennen, geprägt sind. Ich habe – die meisten wissen das – gemeinsam mit Ute Seckendorf 1995 die Geschäftsführung des Landesverbandes übernommen.
Die ersten 5 Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch auf den Gebiet der ehemaligen DDR waren unübersichtlich, nicht nur, aber auch im Bereich, den wir heute als Soziokultur kennen. Dieser war nicht zu vergleichen mit dem, was sich bis dahin in 30 Jahren in den alten Bundesländern etabliert hatte.

Die Chance im Osten bestand darin, mit neuen Zielen, Inhalten und Strukturen - denn Vergleichbares gab es nicht - im Begriffsfeld der Soziokultur an Bekanntes (nämlich einen etablierten und inhaltlich beschriebenen und akzeptierten Begriff) anzuknüpfen. Quasi unter dem Deckmantel eines im Westen etablierten Begriffs eine inhaltlich eigene soziokulturelle Landschaft im Osten zu entwickeln – das war die Chance.

Die Schwierigkeit bestand darin, Einrichtungen, Häuser, Treffs, politische Ziele, inhaltliche Ideen und Konzepte sowie den Grundbestand an Ideen so zu formen, dass daraus erkennbar etwas entsteht, was sich mit den Begriff der Soziokultur etablieren bzw. anfreunden kann.

Was war also die Ausgangslage 1990?

Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland setzte im Osten ein Umstrukturierungsprozess ein.

Mit dem Einigungsvertrag wurde in Artikel 35 festgelegt, die kulturelle Substanz im Osten nach dem Beitritt zu erhalten. Neben der Kulturhoheit der Länder und Kommunen wurde deshalb eine befristete Verantwortung der Bundesregierung für die kulturelle Substanz verankert. Dieses reichte bis 1994. Das war die strukturelle Folie, auf der sich die Entwicklung der Soziokultur im Osten und somit auch in Sachsen vollziehen konnte.

Inhaltlich speiste sich die Soziokultur aus drei Quellen:

  • dem Volkskunstschaffen der DDR mit den Kultur- und Gewerkschaftshäusern;
  • der Friedens- und Umweltbewegung der DDR;
  • Neugründungen in der Wendezeit oder kurz danach – Vereinen, die für sich Räume erobert haben und diese mit Kunst, Kultur oder Politik besetzt haben;

Obwohl nach 1990 40 % der staatlichen Kulturhäuser, 54% der Jugendclubs, die oft an Betrieben hingen, und 70% der Gewerkschaftshäuser geschlossen wurden oder durch das flächendeckende Wegbrechen der Industriestruktur des Ostens nicht mehr genutzt werden konnten, waren Mitte der 90er Jahre - nach einer Bestandsaufnahme von 1994 - immerhin 88 Einrichtungen im Bereich der Soziokultur erfasst worden.

Nach dem Wegfall der Übergangsfinanzierung vom Bund im Jahre 1994 musste in Sachsen und auch in den anderen Bundesländern eine Lösung gefunden werden, um die kulturelle Substanz weiter erhalten zu können.

Sachsen ging mit dem Beschluss des Kulturraumgesetzes vom August 1994 einen eigenen Weg, der die Verpflichtung zum Erhalt der „kulturellen Substanz" in Ostdeutschland auch nach dem Auslaufen der Übergangsfinanzierung ernst nahm und für Folgejahre festschrieb. Auch wenn sich der Impuls zur Etablierung des Kulturraumgesetzes weniger auf die soziokulturelle Landschaft, sondern vielmehr auf die Theater, Orchester und Museen bezog, so war es allemal auch eine Chance. Allerdings bot das Kulturraumgesetz nur für einen Teil eine Zukunftsperspektive, nämlich nur für Einrichtungen, die als „regional bedeutsam" eingeschätzt wurden. Alle anderen brauchten ein mittelfristiges Stabilisierungsprogramm unter Beteiligung des Landes.

Diese Ausgangslage verweist auf die Aufgaben in der 2. Hälfte der 90er Jahre:

  1. Die Beratung von soziokulturellen Zentren, Einrichtungen und Initiativen bei den Prozessen der Strukturentwicklung.
    Dazu gehörten von Mitte der 90er an vor allem Beratungen zu Konzepten und Wirtschaftsplänen der Einrichtungen. Themen, die heute überall zum professionellen Alltagsgeschäft der soziokulturellen Zentren gehören.

  2. Die Etablierung von Facharbeitsgruppen Soziokultur in den Kulturräumen.
    Insofern war es aus unserer Sicht wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die soziokulturellen Einrichtungen in ihrem jeweiligen Kulturraum eine Akzeptanz als Einrichtungen mit überregionaler Bedeutung bekamen und zum anderen hier eine inhaltliche Notwendigkeit der Etablierung der Soziokultur als eigene Sparte innerhalb der Kulturräume gesehen wurde.

  3. Die lobbyseitige Begleitung des Strukturförderprogramms Soziokultur von 1995 mit dem Ziel einer kontinuierlichen Förderung von Soziokultur.
    Dabei wurden Ergebnisse aus den Beratungen in die AG Soziokultur mitgenommen und dort unter politisch-strategischen Aspekten mit Vertreter_innen der Staatsregierung (SMWK) und den Regierungspräsidien beraten. In der Aufbauphase eine unschätzbare Gesprächsebene, konnte diese Transparenz das gegenseitige Vertrauen stärken und dadurch auch ein Stück weit zum Klima der Anerkennung und der Akzeptanz soziokultureller Arbeit in Sachsen beitragen.

  4. Begleitung von Förderentscheidungen zur Soziokultur in Sachsen über die AG Soziokultur.
    (SMWK, Regierungspräsidien, SMS, LAG GFs)

  5. Qualifizierung der Mitarbeiter_innen in den soziokulturellen Einrichtungen in Sachsen.

  6. Schaffung und Stärkung der bundesweiten Vernetzung, u.a. durch die Mitgliedschaft im Bundesverband Soziokultur.

Nimmt man die bundesdeutsche Entwicklungsgeschichte der Soziokultur in den Blick, so lassen sich verschiedene Entwicklungsphasen beschreiben:

Angefangen von der soziokulturellen Begleitung von staatlich initiierten Stadterneuerungen gegen die Unwirtlichkeit der Städte in den 60ern, über die Gestaltung der neuen sozialen Öko-, Frauen- und Friedensbewegung in den 70ern, weitete sich der Anspruch soziokultureller Gestaltung in den 80ern zum Anspruch auf kreative Selbstverwirklichung von individuellen Lebensstilen.
Ist die Soziokultur ab Ende der 80er und zu Beginn der 90er in den alten Bundesländern mit dem Rückgang von politischer Aussagekraft der Soziokultur konfrontiert, stellt sich das im Osten Deutschlands im Herbst 89 ganz anders dar.

Die beschriebenen Wurzeln der Soziokultur in der ehemaligen DDR waren hochpolitisch: in der Friedens- und Ökobewegung im Raum der Kirche, in gesellschaftskritischer Kunst in Klubs und Kultureinrichtungen, in AGs in Kulturhäusern, die sich in den Nischen des Ostens eingerichtet hatten und so ihren Beitrag schlussendlich auch zur politischen Veränderung im Herbst 89 beigetragen hatten. Nicht zu vergessen die sofortige Etablierung von Vereinen und Initiativen als neue Formen nach dem politischen Umbruch im Herbst 1989.

Hier traf ein hochpolitischer Impuls aus dem Osten auf eine Etabliertheit der Soziokultur der alten Bundesländer, der in der Neustrukturierung der ostdeutschen Landschaft in den 90ern nicht in Gänze erhalten werden konnte.

Den Versuch der täglichen Gewinnung des Politischen in der Soziokultur hat es allemal in den 90er Jahren gegeben. Diesen Impuls, der gerade die ostdeutsche Soziokultur in Sachsen in ihrem Verständnis von partnerschaftlicher Gesellschaftsgestaltung zwischen Initiativlandschaft und staatlichem Wollen geprägt hat, sollte auch künftig erhalten und ausgebaut werden.

Mir bleibt zum Schluss, dem gesamten Landesverband Soziokultur im Namen des Kulturbüros Sachsen e.V. sehr herzlich zum 20-jährigen Jubiläum zu gratulieren und bei den kommenden Aufgaben weiterhin wachen Verstand und Ideenreichtum für die Zukunft zu wünschen.

 

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