Fachtag Soziokultur Fachtag Soziokultur

Zusammenfassung

3. Sächsischer Fachtag Soziokultur

Wer sind wir und warum?
Chancen einer bürgernahen Kulturarbeit

Zusammenfassung von Maria Villao Crespo

140 Teilnehmer aus der soziokulturellen Praxis, aus Wissenschaft und Politik, waren der Einladung zum 3. Sächsischen Fachtag Soziokultur gefolgt, der am 29.11.2012 in der Kulturfabrik in Leipzig stattfand. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Sächsischen Soziokultur widmete sich dieser dem Damals und dem Heute, reflektierte Aufbruch und Etablierung und präsentierte die gegenwärtige sächsische Soziokultur in Zahlen. Thematisch beschäftigte die Akteure der Demographische Wandel, der Professionalisierungsausbau und die kulturelle Bildungsanforderung.

Torsten Wiegel, Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes Soziokultur Sachsen, beschrieb in seiner Begrüßungsrede den Titel des Fachtags "Wer sind wir und warum? Chancen einer bürgernahen Kulturarbeit" als „Ausdruck eines Unterwegsseins, der Selbstreflexion und der Neugier". Auch nach 20 Jahren Soziokultur in Sachsen sei das Verständnis des Begriffs und damit die Kommunikation nach außen immer noch schwierig, da Soziokultur genauso eine dynamische und sehr heterogene Praxis bürgernaher Kulturarbeit beschreibt, wie eine systematische Verbindung von Kultur- und Sozialarbeit. Der Begriff steht sowohl für einen inhaltlichen Anspruch wie für eine Organisationsform, nämlich Kulturzentren, die nicht nur Kultur anbieten, sondern auch auf die Beteiligung der Bürger setzen. Er wird gleichermaßen für prozessorientierte Projektarbeit wie für künstlerische Experimentierfreude verwandt. Den Fachtag nannte Torsten Wiegel einen „Baustein auf dem Weg des immer noch unabgeschlossenen Prozesses der Schaffung konzeptioneller Grundlagen für die soziokulturelle Arbeit, für die der erste Kriterienkatalog Soziokultur nur einen ersten Schritt darstellte". In Folge dieser Auseinandersetzung wird auch der Kriterienkatalog fortgeschrieben werden.

Ulf Grossmann, Präsident der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, würdigte in seiner Rede das Engagement der soziokulturellen Zentren und die Facharbeit des Landesverbandes. Zudem betonte er nachdrücklich die Wichtigkeit der Beschäftigung mit der Thematik der Kulturellen Bildung, für die die Soziokultur einen wichtigen Beitrag leiste.

Die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Landesverband lobte auch Thomas Früh, Leiter der Abteilung Kunst des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, in seiner Ansprache. Er erklärte die Auseinandersetzung mit der Thematik des Demographischen Wandels insbesondere für Sachsen als extrem wichtig. Man müsse sich jetzt schon darauf einrichten, dass in wenigen Jahren die über Fünfzigjährigen einen Großteil der Kulturnutzer ausmachen werden und speziell für diese Angebote geschaffen werden müssen.

Grit Hanneforth, ehemalige Geschäftsführerin des Landesverbandes Soziokultur und derzeitige Geschäftsführerin des Kulturbüros Sachsen, reflektierte in ihrem Vortrag den Aufbruch und die ersten zehn Jahre der Soziokultur in Sachsen. Demnach bestand die Hauptaufgabe in den 90er Jahren darin, unter dem im Westen etablierten Begriff der Soziokultur eine inhaltlich eigene soziokulturelle Landschaft im Osten zu entwickeln. Der Kulturdirektor der Stadt Erfurt, Tobias Knoblich, ebenfalls ehemaliger Geschäftsführer des Landesverbandes, beleuchtete in seinem Vortrag vor allem den Wandel des Landesverbandes im letzten Jahrzehnt. Er besprach vor allem die Etablierungsphase der Soziokultur in Sachsen und den damit verbundenen Professionalisierungsschub sowohl in den Einrichtungen selbst als auch in der Verbandsarbeit. Anne Pallas, die derzeitige Geschäftsführerin des Landesverbandes, präsentierte nachfolgend die aus einer großen Bestandsaufnahme im Jahr 2012 hervorgegangenen Zahlen zur sächsischen Soziokultur. „Mit insgesamt 9 Millionen Euro öffentlicher Förderung erreichte diese 2011 rund 1,6 Millionen Besucher. Ermöglicht wurde das durch rund 4.000 Menschen, die in der Soziokultur als Vereinsmitglieder, Ehrenamtliche, Honorarkräfte und Mitarbeiter tätig sind. Damit fördert die öffentliche Hand im Durchschnitt jeden Besuch in der Soziokultur mit rund 5,60 Euro. Gemessen an der Leistungskraft der Soziokultur und den Multiplikationseffekten für das Gemeinwesen, sind wir damit verdammt lukrativ" schlussfolgerte Anne Pallas.

Albrecht Göschel ging in seinem Vortrag „Demographischer Wandel: Chance oder Bedrohung" speziell auf die Problematik des durch innerdeutsche „Wohlstandswanderungen" verursachten Bevölkerungsrückganges ein, der sich vor allem in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands bemerkbar macht. Göschel verwies dabei auf die Selektivität solcher Wanderungen, die dazu führt, dass vor allem gut ausgebildete jüngere Frauen in vorrangig westdeutsche Gebiete mit höherem Wohlstandsniveau oder zumindest in ostdeutsche Dienstleistungs- und Bildungszentren abwandern. Als Folge daraus leitete Göschel ab: „In den schrumpfenden Regionen und Städten Ostdeutschlands entsteht eine komplexe, mehrschichtige Problemlage. Es bleibt eine Restbevölkerung zurück, die überwiegend von den Faktoren männlich, alt oder zumindest älter und schlecht qualifiziert, niedriger Bildungsstand und vor allem von Enttäuschungen, Abstiegserfahrungen, Status- und Anerkennungsverlust geprägt ist." Nach Göschel bestimmen hohe Arbeitslosigkeit, unqualifizierte Arbeitsplätze und ein deutlicher Männerüberschuss – besonders in den jüngeren Jahrgängen – den Alltag dieser „neuen" benachteiligten Unterschicht, was er kurz mit „Kein Job und keine Frau!" auf den Punkt brachte. Göschel schlussfolgert für die Soziokultur: „Die tatsächlich Unterprivilegierten, die Angehörigen einer aktuellen Unterschicht werden nicht oder nur in Ausnahmefällen erreicht. Diese politische Zielsetzung scheitert komplett." Auf dem Podium wurde diese Aussage noch einmal aufgegriffen und die Frage gestellt, ob denn die Soziokultur überhaupt der „Reparaturbetrieb" der Gesellschaft sein könne. Zwar fordert der Ansatz einer Kultur für alle auch eine Zuwendung zu marginalisierten Gruppen mit ein, Göschel selbst betonte aber, dass es nicht Aufgabe der Soziokultur sein könne, Aufgaben der Bildungs- und Sozialpolitik mit Kulturarbeit zu lösen. Einige Thesen dieses Vortrags sorgten für starkes Raunen unter den Teilnehmern. Unter anderem der Vorwurf an die Soziokultur, dass sich die Akteure in ihrer Arbeit vor allem selbst verwirklichen, wurde von den Sachsen nicht geteilt. Dem von Göschel intendierten Selbstverwirklichungsmilieu lassen sich die sächsischen Akteure nicht zuordnen. Dies betonte auch Anne Pallas noch einmal in ihrer abschließenden Betrachtung zum sächsischen Selbstverständnis. Der starke Dienstleistungsgedanke am Gemeinwesen unterbinde allein einen solchen selbstreferentiellen Bezug in der Kulturarbeit. Die Sachsen würden sich eher als Kulturarbeiter verstehen, denn als „verhinderte Künstler". Vor allem die Praktiker waren begeistert von Göschels Fakten und Analysen zur Demographie. Sie fanden in den Aussagen ihre Arbeitswirklichkeit widergespiegelt. So lobte einer der Akteure den Vortrag vor allem, weil er endlich einmal ausspräche, was insbesondere im ländlichen Raum eine Rolle spiele und bisher eher runter gespielt würde. Besonders die Arbeit mit jungen Männern sei die größte Herausforderung, was aber nicht allein durch die Soziokultur geleistet werden könne.

„Gutes Management ist Pflicht – Soziokulturelle Ziele erfüllen ist Kür" lautete das Fazit von Prof. Dr. Dieter Haselbachs Vortrag „Kultur und Professionalisierung: Soziokultur zwischen gesellschaftlichem Auftrag und Markt." Gemeint war damit, dass auch im soziokulturellen Bereich eine ordnungsgemäße kaufmännische Betriebsführung unabdingbar ist. Wenn diese Grundvoraussetzung erfüllt ist, kann man sich den inhaltlichen Zielen widmen, die Soziokultur ausmachen. Beides zusammen, ordentliches Wirtschaften und hervorragende Erfüllung von soziokulturellen Zielen, wird in Zeiten des Bevölkerungsrückganges Voraussetzung dafür sein, dass Soziokultur weiterhin Gegenstand öffentlicher Förderung bleibt.

Auch in den Workshops des 3. Sächsischen Fachtags Soziokultur wurden thematisch die gegenwärtigen Herausforderungen der Soziokultur wie der Demographische Wandel, der Professionalisierungsausbau und die kulturelle Bildungsanforderung behandelt sowie die Notwendigkeit der Vernetzung der soziokulturellen Zentren. Deutlich wurde, dass die Themen sehr viel Gesprächsstoff boten und damit nur ansatzweise in den Workshops diskutiert werden konnten. Dennoch seien an dieser Stelle einige Auffassungen wiedergegeben:

Die Meinungen zum Thema demographischer Wandel variierten bei den Workshop-Teilnehmern sehr stark. Während in größeren Städten und dicht besiedelten Regionen die Akteure dem Demographischen Wandel eher unbesorgt entgegensehen, befürchtete man in den ländlichen Gebieten einen Rückgang der Besucher, aber auch den sozialen Verfall, der sich bereits bemerkbar mache. In Zukunft sei es daher wichtig, älteren Menschen, die aus dem Berufsleben aussteigen, spezielle Angebote zu offerieren. Hierbei handele es sich um eine Zielgruppe, die bislang wenig Beachtung in der Kulturarbeit fände. Den sogenannten „jungen Alten" wohnt nicht nur ein Potenzial hinsichtlich passiver Nutzung von Kulturangeboten inne, sie sind oftmals auch gewillt und fit, ihre Fähigkeiten einzubringen und etwas aktiv mitzugestalten. Dabei gäbe es bereits viele qualitativ hochwertige Angebote in den soziokulturellen Zentren Sachsens, die für die neue Zielgruppe nur adaptiert werden müssen.

Im Workshop zum Thema Professionalisierungsausbau wurde der vermeintliche Antagonismus zwischen Professionalisierungsausbau und dem improvisatorischen Ansatz soziokultureller Arbeit als weniger kritisch angesehen. Standardisierung sei vielmehr Mittel zum Zweck und befördere eher Freiräume, die das improvisatorische Element der Soziokultur stärken können.

Im Workshop zur kulturellen Bildung wurde vor allem klar, dass es bei dieser nicht darum geht, Künstler auszubilden oder zu fördern, sondern Menschen die Möglichkeit zu bieten, selbstständig ihre Interessen zu verfolgen und sich zu entwickeln. Der Mehrwert kultureller Bildung läge vor allem in der Vielseitigkeit, mit der sie Persönlichkeitsentwicklung unterstützen kann und zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen anrege.

Vertreter der Hochkultur betonten in einem weiteren Workshop ihr Bestreben, mit Einrichtungen der Soziokultur stärker kooperieren zu wollen. Da diese sehr viele kulturelle Ebenen vereinen und ein breites Angebotsspektrum haben, erreichten sie ganz andere Zielgruppen als hochspezialisierte Kultureinrichtungen. Gemeinsame Projekte böten sich daher an und wurden beispielhaft anhand der Leipziger Kooperationen zwischen Gewandhaus und Soziokultur dargelegt. Zudem stellten die Leipziger ihre Strategie der Vernetzung vor und berichteten von ihren kulturpolitischen Erfolgen.

Im Anschluss an die Workshops verlieh die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen den Preis für soziokulturelles Engagement. Gudula Kienemund, Geschäftsführerin der Leipziger Kulturpaten, stellte in ihrer Laudatio das besondere soziokulturelle Engagement des Leipziger Kindermuseums UNIKATUM heraus, welches in diesem Jahr den mit 5.000 Euro dotierten Preis erhielt.

Im letzten Vortrag des Fachtags stellte Anne Pallas den zweiten Teil der Bestandsaufnahme vor, der sich hauptsächlich mit dem Selbstverständnis der sächsischen Soziokultur beschäftigte. Die Analyse ergab unter anderem, dass die Geschäftsführer der sächsischen Soziokulturzentren ein deutliches Bewusstsein für den öffentlichen Auftrag haben, die soziokulturellen Programme als Dienstleistungen am Gemeinwesen betrachten und die Mehrheit der Befragten Soziokultur als Ergänzung zu anderen Kulturangeboten sieht. Als wichtigste Merkmale für die soziokulturelle Arbeit führte Anne Pallas den Beteiligungsaspekt, den Gemeinwesenbezug und die habituelle Offenheit der Häuser an. Letztgenanntes wirke im Sinne einer Grundeinstellung, welche vor allem die Teilhabe der Bürger ermöglichen soll. „Mit dieser Analyse würde ich die Soziokultur in Sachsen als systemstabilisierend bezeichnen, gerade weil es eine kritische Auseinandersetzung mit Gesellschaft gibt, das Gemeinwesen Referenzfläche ist, Bildung einem humanistischen Prinzip folgt und der Ansatz existiert, für alle Menschen da sein zu wollen", so die Geschäftsführerin des Landesverbandes.

Auf der abschließenden Podiumsdiskussion wurde darüber diskutiert, was Soziokultur leisten kann und leisten soll. Wolfgang Kalus, Kultursekretär des Kulturraums Mittelsachsen-Erzgebirge setzte sich leidenschaftlich für eine Fachkräfteförderung in der Soziokultur ein. Er bescheinigte der soziokulturellen Arbeit einen sehr hohen öffentlichen Wert, bemerkte aber auch, dass mancherorts eine stärkere Qualifizierung der Träger nötig sei. Sein Plädoyer endete mit den Worten: „Stärken wir also unsere soziokulturellen Zentren und machen sie zukunftssicher." Dr. Dorothea Kolland, Kulturamtsleiterin in Neukölln zeigte sich verwundert darüber, dass Diversität und Internationalität unter der Überschrift Demographie thematisch scheinbar keine Rolle spielten in Sachsen. Dass gerade in grenznahen Gebieten die soziokulturellen Zentren Sachsens sehr intensiv mit den Partnern in Polen und Tschechien zusammenarbeiten, entgegnete unter anderen auch Wolfgang Kalus. Dennoch sei die Arbeit mit Migranten in Sachsen kein vordergründiges Thema, weil der Anteil an der Gesamtbevölkerung so gering ist (Ausländeranteil bei rund 2,7 %, deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund unter 2,5%). Daher könne man die Neuköllner Sicht nicht mit einem Flächenland wie Sachsen vergleichen.

Neben den vielen Vorträgen konnten die Besucher auf der Tagung auch Einblicke in die soziokulturelle Landschaft gewinnen. Die Goldne Sonne aus Schneeberg stellte ein besonderes sächsisches Brauchtum vor – das Klöppeln – das in dem Schneeberger Zentrum sogar ein eigenes Ausbildungsprofil begründet hat. Auch das Medienkulturzentrum Dresden und die Leipziger Zentren präsentierten sich mit zahlreichen Informationen. Für 50 € wurde das soziokulturelle Klischeepaket an Henning Homan, MdL und jugendpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion versteigert. Der Erlös ging an die Organisatoren der Tagung und wurde zweckgebunden für die Getränkeversorgung beim gemeinsamen Ausklang am Abend verwendet. Mit einem Augenzwinkern zusammengestellt enthielt das Paket unter anderen Basismüsli, Biokaffee und Wollsocken, nicht zuletzt aber auch den Kriterienkatalog der sächsischen Soziokultur, der die Klischees wieder entkräften konnte.

  

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Ansprechpartner Veranstaltungsmanagement: Kathrin Weigel (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

 

Aufbruchphase

Reflexion der ersten 10 Jahre Soziokultur in Sachsen

Vortrag auf dem 3. Sächsischen Fachtag Soziokultur am 29.11.2012Bild: Grit Hanneforth

Grit Hanneforth
ehem. Geschäftsführerin Landesverband Soziokultur Sachsen (1995-2001); Geschäftsführerin Kulturbüro Sachsen e.V.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe ehemalige Kolleg_innen, liebe Freunde,

 

ich bedanke mich sehr herzlich, dass ich als ehemalige Geschäftsführerin der LAG Soziokultur eingeladen bin, um hier eine kurze Reflexion zu den 90er Jahren zu geben, die vom Aufbau dessen, was wir heute als Soziokultur in Sachsen kennen, geprägt sind. Ich habe – die meisten wissen das – gemeinsam mit Ute Seckendorf 1995 die Geschäftsführung des Landesverbandes übernommen.
Die ersten 5 Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch auf den Gebiet der ehemaligen DDR waren unübersichtlich, nicht nur, aber auch im Bereich, den wir heute als Soziokultur kennen. Dieser war nicht zu vergleichen mit dem, was sich bis dahin in 30 Jahren in den alten Bundesländern etabliert hatte.

Die Chance im Osten bestand darin, mit neuen Zielen, Inhalten und Strukturen - denn Vergleichbares gab es nicht - im Begriffsfeld der Soziokultur an Bekanntes (nämlich einen etablierten und inhaltlich beschriebenen und akzeptierten Begriff) anzuknüpfen. Quasi unter dem Deckmantel eines im Westen etablierten Begriffs eine inhaltlich eigene soziokulturelle Landschaft im Osten zu entwickeln – das war die Chance.

Die Schwierigkeit bestand darin, Einrichtungen, Häuser, Treffs, politische Ziele, inhaltliche Ideen und Konzepte sowie den Grundbestand an Ideen so zu formen, dass daraus erkennbar etwas entsteht, was sich mit den Begriff der Soziokultur etablieren bzw. anfreunden kann.

Was war also die Ausgangslage 1990?

Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland setzte im Osten ein Umstrukturierungsprozess ein.

Mit dem Einigungsvertrag wurde in Artikel 35 festgelegt, die kulturelle Substanz im Osten nach dem Beitritt zu erhalten. Neben der Kulturhoheit der Länder und Kommunen wurde deshalb eine befristete Verantwortung der Bundesregierung für die kulturelle Substanz verankert. Dieses reichte bis 1994. Das war die strukturelle Folie, auf der sich die Entwicklung der Soziokultur im Osten und somit auch in Sachsen vollziehen konnte.

Inhaltlich speiste sich die Soziokultur aus drei Quellen:

  • dem Volkskunstschaffen der DDR mit den Kultur- und Gewerkschaftshäusern;
  • der Friedens- und Umweltbewegung der DDR;
  • Neugründungen in der Wendezeit oder kurz danach – Vereinen, die für sich Räume erobert haben und diese mit Kunst, Kultur oder Politik besetzt haben;

Obwohl nach 1990 40 % der staatlichen Kulturhäuser, 54% der Jugendclubs, die oft an Betrieben hingen, und 70% der Gewerkschaftshäuser geschlossen wurden oder durch das flächendeckende Wegbrechen der Industriestruktur des Ostens nicht mehr genutzt werden konnten, waren Mitte der 90er Jahre - nach einer Bestandsaufnahme von 1994 - immerhin 88 Einrichtungen im Bereich der Soziokultur erfasst worden.

Nach dem Wegfall der Übergangsfinanzierung vom Bund im Jahre 1994 musste in Sachsen und auch in den anderen Bundesländern eine Lösung gefunden werden, um die kulturelle Substanz weiter erhalten zu können.

Sachsen ging mit dem Beschluss des Kulturraumgesetzes vom August 1994 einen eigenen Weg, der die Verpflichtung zum Erhalt der „kulturellen Substanz" in Ostdeutschland auch nach dem Auslaufen der Übergangsfinanzierung ernst nahm und für Folgejahre festschrieb. Auch wenn sich der Impuls zur Etablierung des Kulturraumgesetzes weniger auf die soziokulturelle Landschaft, sondern vielmehr auf die Theater, Orchester und Museen bezog, so war es allemal auch eine Chance. Allerdings bot das Kulturraumgesetz nur für einen Teil eine Zukunftsperspektive, nämlich nur für Einrichtungen, die als „regional bedeutsam" eingeschätzt wurden. Alle anderen brauchten ein mittelfristiges Stabilisierungsprogramm unter Beteiligung des Landes.

Diese Ausgangslage verweist auf die Aufgaben in der 2. Hälfte der 90er Jahre:

  1. Die Beratung von soziokulturellen Zentren, Einrichtungen und Initiativen bei den Prozessen der Strukturentwicklung.
    Dazu gehörten von Mitte der 90er an vor allem Beratungen zu Konzepten und Wirtschaftsplänen der Einrichtungen. Themen, die heute überall zum professionellen Alltagsgeschäft der soziokulturellen Zentren gehören.

  2. Die Etablierung von Facharbeitsgruppen Soziokultur in den Kulturräumen.
    Insofern war es aus unserer Sicht wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die soziokulturellen Einrichtungen in ihrem jeweiligen Kulturraum eine Akzeptanz als Einrichtungen mit überregionaler Bedeutung bekamen und zum anderen hier eine inhaltliche Notwendigkeit der Etablierung der Soziokultur als eigene Sparte innerhalb der Kulturräume gesehen wurde.

  3. Die lobbyseitige Begleitung des Strukturförderprogramms Soziokultur von 1995 mit dem Ziel einer kontinuierlichen Förderung von Soziokultur.
    Dabei wurden Ergebnisse aus den Beratungen in die AG Soziokultur mitgenommen und dort unter politisch-strategischen Aspekten mit Vertreter_innen der Staatsregierung (SMWK) und den Regierungspräsidien beraten. In der Aufbauphase eine unschätzbare Gesprächsebene, konnte diese Transparenz das gegenseitige Vertrauen stärken und dadurch auch ein Stück weit zum Klima der Anerkennung und der Akzeptanz soziokultureller Arbeit in Sachsen beitragen.

  4. Begleitung von Förderentscheidungen zur Soziokultur in Sachsen über die AG Soziokultur.
    (SMWK, Regierungspräsidien, SMS, LAG GFs)

  5. Qualifizierung der Mitarbeiter_innen in den soziokulturellen Einrichtungen in Sachsen.

  6. Schaffung und Stärkung der bundesweiten Vernetzung, u.a. durch die Mitgliedschaft im Bundesverband Soziokultur.

Nimmt man die bundesdeutsche Entwicklungsgeschichte der Soziokultur in den Blick, so lassen sich verschiedene Entwicklungsphasen beschreiben:

Angefangen von der soziokulturellen Begleitung von staatlich initiierten Stadterneuerungen gegen die Unwirtlichkeit der Städte in den 60ern, über die Gestaltung der neuen sozialen Öko-, Frauen- und Friedensbewegung in den 70ern, weitete sich der Anspruch soziokultureller Gestaltung in den 80ern zum Anspruch auf kreative Selbstverwirklichung von individuellen Lebensstilen.
Ist die Soziokultur ab Ende der 80er und zu Beginn der 90er in den alten Bundesländern mit dem Rückgang von politischer Aussagekraft der Soziokultur konfrontiert, stellt sich das im Osten Deutschlands im Herbst 89 ganz anders dar.

Die beschriebenen Wurzeln der Soziokultur in der ehemaligen DDR waren hochpolitisch: in der Friedens- und Ökobewegung im Raum der Kirche, in gesellschaftskritischer Kunst in Klubs und Kultureinrichtungen, in AGs in Kulturhäusern, die sich in den Nischen des Ostens eingerichtet hatten und so ihren Beitrag schlussendlich auch zur politischen Veränderung im Herbst 89 beigetragen hatten. Nicht zu vergessen die sofortige Etablierung von Vereinen und Initiativen als neue Formen nach dem politischen Umbruch im Herbst 1989.

Hier traf ein hochpolitischer Impuls aus dem Osten auf eine Etabliertheit der Soziokultur der alten Bundesländer, der in der Neustrukturierung der ostdeutschen Landschaft in den 90ern nicht in Gänze erhalten werden konnte.

Den Versuch der täglichen Gewinnung des Politischen in der Soziokultur hat es allemal in den 90er Jahren gegeben. Diesen Impuls, der gerade die ostdeutsche Soziokultur in Sachsen in ihrem Verständnis von partnerschaftlicher Gesellschaftsgestaltung zwischen Initiativlandschaft und staatlichem Wollen geprägt hat, sollte auch künftig erhalten und ausgebaut werden.

Mir bleibt zum Schluss, dem gesamten Landesverband Soziokultur im Namen des Kulturbüros Sachsen e.V. sehr herzlich zum 20-jährigen Jubiläum zu gratulieren und bei den kommenden Aufgaben weiterhin wachen Verstand und Ideenreichtum für die Zukunft zu wünschen.

 

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