Demographischer Wandel: Chance oder Bedrohung?

Herausforderungen und Aufgaben einer gemeinwesenorientierten Kulturpolitik

 Bild: Albrecht Göschel (Veranstaltungsmanagement & Foto: Kathrin Weigel)

Vortrag auf dem 3. Sächsischen Fachtag Soziokultur am 29.11.2012

 

Albrecht Göschel
Stadtplaner, Stadt- und Kultursoziologe (Berlin)

 

 

1. Kulturpolitische Programmatik der Soziokultur

Um die Bedeutung des demographischen Wandels für die Soziokultur einschätzen zu können, ist es hilfreich, sich einige programmatische Inhalte, Ziele und Anforderungen von Soziokultur – im Westen wie im Osten Deutschlands – zu vergegenwärtigen.

Der immer etwas schwammig gebliebene Begriff der Soziokultur soll in der alten Bundesrepublik Deutschland eine kulturelle und kulturpolitische Praxis bezeichnen, in der versucht wird, Kunst und Kultur enger in lebensweltliche Zusammenhänge einzubinden, als das bei eine traditionellen Hochkultur unterstellt wird. Auf diese Weise sollte dem Motto „Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik", das die Soziokultur und die gesamten kulturpolitischen Reformen der 1960er- und 1970er Jahre begleitete, Rechnung getragen werden. Eine Gemeinwesenorientierung als Weg zur lebensweltlichen Einbindung von Kunst und Kultur und damit als Methode, kulturelle Aktivitäten auch für Benachteiligte zugänglich werden zu lassen, rückt in den Vordergrund. Traditioneller kultureller Praxis wird vorgeworfen, durch einen Autonomiebegriff von Kunst diesen Alltagsbezug von Kunst eliminiert und sie damit gegen eine breite Partizipation immunisiert, sie zum Privileg des Bürgertums, der gebildeten Schichten gemacht zu haben. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die offensichtliche Ungleichheit in der kulturellen Partizipation, die wie in den Bildungsreformen der 1960er-Jahre auch den Anlass für die Reformbestrebungen nun auch in der Kulturpolitik darstellt. Das Skandalon einer bislang ohne Widerspruch hingenommenen Verteilungsungerechtigkeit stellt demnach den Ausgangspunkt von Soziokultur dar [1]. Es sind nach dieser Vorstellung die Eliten, die oberen Mittelschichten, das „Bildungsbürgertum", die sich in überproportionaler Weise die Werte von Kunst und Kultur, besonders einer öffentlich geförderten, aneignen, während untere, bildungsferne Schichten entweder auf einen – minderwertigen – Kulturmarkt verwiesen werden oder völlig leer ausgehen. Es ist die typisch sozialdemokratische Kategorie einer „Verteilungsgerechtigkeit", die aus dieser Sicht die Anfänge der Kulturpolitikreformen und damit auch den Begriff der Soziokultur prägt.

Erst im Verlauf der Reformen wird dieses Verteilungs- resp. Umverteilungskonzept einer „Kultur für alle" durch die Programmatik einer „Kultur von allen" erweitert, in der unterschiedliche Schichten oder Milieus das gleiche Recht erhalten sollen, die ihnen gemäße Kultur zu entfalten, unabhängig von Qualitätskriterien, die den entsprechenden Milieus eher fremd sein könnten. Auch hier spielen aber Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit eine zentrale Rolle. Allerdings beziehen sie sich jetzt nicht nur auf einen kulturellen Kanon, auf anerkannte kulturelle Werte, die für alle Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise zugänglich sein sollen, sondern auf die gleiche Berechtigung Aller zu kulturell-künstlerischer Artikulation, jeweils nach den Mustern oder Formen, die in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen, in Schichten oder Milieus als anerkannt gelten können. Die kulturpolitischen Implikationen einer Ausuferung des Kulturbegriffs und damit auch des Förderanspruchs verhindern allerdings eine breite Durchsetzung dieses Konzeptes, auch wenn es kulturtheoretisch möglicherweise überzeugender sein könnte, als das sozialdemokratisch geprägte Umverteilungsmodell in Bezug auf „kulturelle Werte".

Aus diesen kulturpolitischen Konzepten erwachsen besondere Merkmale der Soziokultur. So wenden sich deren Sprecher und Verfechter gegen jede Vorstellung von einer „autonomen Kunst", suchen besonders Laienaktivitäten zu fördern und betonen die Alltäglichkeit kultureller Praxis entgegen der herausgehobenen Aura und dem Zug zum Kontemplativen, das nach dieser Auffassung traditioneller Hochkultur anhaftet.

In den Neuen Bundesländern trifft dieses Konzept von Soziokultur, ohne dass der Begriff vor der Vereinigung bekannt oder benutzt worden wäre, auf eine kulturpolitische Geschichte, die sich in vieler Hinsicht bereits seit Gründung der DDR an ähnlichen Normen orientiert. Auch die Kulturpolitik der DDR ist vom Kriterium der Gleichheit durch Verteilungsgerechtigkeit geprägt, d.h. auch sie versucht massiv, bislang als kulturfern geltende Bevölkerungsgruppen an kulturell-künstlerischer Praxis partizipieren zu lassen. Wie in durchaus vergleichbaren Bemühungen in der alten Bundesrepublik Deutschland auch, sollen diese traditionell kultur- und bildungsfernen Gruppen allerdings nicht nur als Rezipienten, sondern vor allem auch als Produzenten künstlerischer Leistungen gewonnen werden. In Slogans wie „Greif zur Feder Kumpel!", in anhaltenden Auseinandersetzungen über die Aneignung des „kulturellen Erbes", in einer umfangreichen und aufwendigen Förderung von Kulturhäusern kommen diese kulturpolitischen Zielsetzungen der DDR zum Ausdruck.

Für eine neue, freie Kulturarbeit in den neuen Bundesländern nach den „Wende" wird diese Tradition allerdings auch zum Problem, da sie als die eines untergegangenen, gescheiterten und in vieler Hinsicht autoritären und diktatorischen Systems nicht ohne weiteres fortgesetzt werden kann. Während sich im Westen in den 1990er-Jahren klar herausstellt, dass die Ziele der „Soziokultur" in Hinsicht auf eine soziale Verbreiterung kultureller Partizipation durchweg verfehlt worden sind, scheint es in den Neuen Bundesländern um eine kulturelle Praxis zu gehen, in der eine freie, von staatlicher Lenkung unabhängige, zwar lebensweltlich aber nicht zwingend an Umverteilung orientierte Kunst und Kultur im Vordergrund steht.

Allerdings ist diese Ausrichtung nicht unumstritten. So wird gerade in den ersten Jahren die soziale Breite, also die Verteilungsgerechtigkeit von Kulturpolitik durchaus eingefordert, und konzeptionell ist eine lebensweltlich auf das Gemeinwesen orientierte Kulturpolitik und Kulturarbeit ohne die Norm der Verteilungsgerechtigkeit auch kaum plausibel vorzubringen. Wenn bereits die traditionelle Kunst und Kultur in ihren Vermittlungs- und Präsentationsformen zum Feld der bildungsnahen Schichten wird, wäre es nicht zu rechtfertigen, eine neue Kulturform, die der Soziokultur, zu entwickeln, die, wenn auch durch andere Vermittlungsformen, wieder die gleichen Gruppen bevorzugt. Unabhängig also von möglicherweise belastenden Traditionen der DDR-Kulturpolitik sollte von einer gemeinwesenorientierten Soziokultur erwartet werden, dass sie in programmatischer Weise kulturpolitische Ausgleiche zwischen privilegierten Bildungsgruppen und unterprivilegierten bildungsfernen Schichten zu erreichen sucht. Sonst würde die Verteilungsungerechtigkeit, die in Kulturpolitik immer erfolgt und fast unvermeidlich zu sein scheint, noch gesteigert.


 

2. Zielgruppen einer umverteilungsorientierten Kulturpolitik der Soziokultur

In der alten Bundesrepublik Deutschland waren die Zielgruppen einer kulturpolitischen Reform und damit der neuen Kulturform Soziokultur relativ einfach zu bestimmen. Es waren die bildungsfernen Schichten oder Sozialgruppen, die bereits der Bildungsreform als Aufgabe einer ausgleichenden, gerechtigkeits- oder gleichheitsorientierten Politik galten: städtische und vor allem ländliche Unterschichten aus übermäßig traditionellen sozialen Kontexten und Berufen, idealtypisch pointiert im „katholischen Mädchen vom Lande".

Das Ziel war, diese Gruppen als Bildungsreserven einer wachsenden und im Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft stehenden Volkswirtschaft zu erschließen. Die Chancen – auf soziale und lokale Mobilität, auf neue Berufsperspektiven und sozialen Aufstieg – von Benachteiligten, aus dem Bildungswesen Ausgeschlossenen sollten erweitert werden, und sie wurden bis in die 1980er-Jahre hinein auch tatsächlich gravierend erweitert. Der westdeutschen Bildungsreform gelang es tatsächlich, Bildungsteilnahme auf bislang von höheren Bildungsgängen weitgehend ausgeschlossene Sozialgruppen auszudehnen und ihnen zunehmend anspruchvollere, akademische Berufskarrieren zu eröffnen.

Die neue Soziokultur im Westen scheint nun überwiegend zur Kulturform dieser Bildungsaufsteiger geworden zu sein. Besonders von Ihnen wurden vor allem die neuen soziokulturellen Zentren aufgesucht – und auch betrieben, die jedoch nach bereits vollzogenem Bildungsaufstieg und nicht zu dessen Vorbereitung genutzt wurden. Sozialgruppen, die an dieser Bildungsexpansion nicht partizipierten, wurden auch von den neuen Kulturformen und Kultureinrichtungen nur in Ausnahmefällen erreicht. Für die Bildungsaufsteiger jedoch wird die Soziokultur zu „ihrer" Kultur, und sie wird verbunden mit der persönlichen Erfahrung des Aufstiegs, zumindest der Befreiung aus traditionell beengenden Verhältnissen. Auch dann nämlich, wenn dem Bildungsaufstieg keine entsprechende berufliche Karriere folgte, wenn die höhere Bildung eher in eine prekäre Berufslaufbahn mündete, was in wachsendem Maße der Fall war, bleibt die Soziokultur im Westen der Kontext einer Emanzipation Benachteiligter und Symbol für deren Aufbegehren gegen Privilegien der engen alten Bildungseliten. Aus diesem Kontext ist die Konkurrenz zwischen alter und neuer, reformierter, soziokultureller Kulturform zu verstehen. Es geht nicht nur um Umverteilung, auch wenn das den Ausgangspunkt bildet, sondern vor allem symbolisch um kulturelle Definitions- und Dominanzansprüche zwischen alten und neuen Bildungsgruppen. Seit sich jedoch diese Aufstiege vollzogen haben, Reformvorhaben realisiert wurden und sich Zukunftschancen für alle Bildungsgruppen verschlechtern, bis ins alte Bildungsbürgertum hinein, das mehr oder weniger schon aufgehört hat, überhaupt noch zu existieren, verliert die westliche Soziokultur an Dynamik, an Innovationsleistung, an Attraktivität. Zum einen sind Kultur und Kunst in einem Ausmaß nach Sparten, Gattungen, Stilen so differenziert, dass die Unterscheidung „traditionelle Hochkultur" vs. „Soziokultur" kaum noch aussagefähig ist. Zum anderen wächst für alle Kulturformen der Druck, sich marktförmig, also kommerziell zu verhalten, da staatliche Förderung völlig außerstande ist, in dem boomenden und hoch differenzierten kulturell-künstlerischen Geschehen umfassend zu fördern. Bestimmend werden die Fähigkeit, sich im Kulturmarkt zu behaupten, äußere Wahrnehmbarkeit und Werbegängigkeit durch professionelles Kulturmanagement zu entwickeln, und nicht der Anspruch, eine „lebensweltlich eingebundene Soziokultur" gegen die Aura einer Hochkultur der „autonomen Kunst" auszuspielen.

Zu den Erfolgsbedingungen der Soziokultur im Westen während der 1970er- und 1980er-Jahre gehört jedoch auch, dass sich die Kulturpolitik dieser Jahre auf mehr oder weniger handlungsfähige öffentliche, also kommunale und staatliche Institutionen stützen kann und dies selbstverständlich auch tut. Trotz aller Informalität und Lösung von institutionellen Zwängen, die anfangs in der Soziokultur und den soziokulturellen Zentren vertreten werden, gilt doch als unbezweifelt, dass es die öffentlichen Kulturhaushalte seien, die für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen haben, da deren Unausgewogenheit ja ein Anlass der Reformbewegungen ist. Aber auch diese Bedingung hat sich in den letzten Jahren, etwa seit Ende der 1990er-Jahre grundlegend gewandelt. Die wichtigsten Träger gerade der Soziokultur sind die Kommunen. Deren chronische Finanzkrise löst wachsende Restriktionen bei allen freiwilligen Leistungen aus, zu denen auch die Kulturpolitik gehört. Obwohl die kommunalen Kulturhaushalte dennoch bisher nicht gravierend gekürzt wurden, sondern ganz überwiegend zumindest stabil blieben, wenn nicht sogar gewachsen sind, beginnen zurzeit Konsolidierungen, die gewohnheitsmäßig bei den am wenigsten gefestigten, in der Regel also bei den neueren Einrichtungen beginnen, und das sind meist die soziokulturellen Einrichtungen. Die gegenwärtigen Bedingungen entsprechen also in keiner Weise denen der Reformphase, in der die Soziokultur entstanden ist.

Völlig unterschiedlich, ja gegensätzlich zu den Reformbedingungen im Westen während der 1970er- und 1980er-Jahre sind die der neuen Bundesländer zur und seit der Wende. Eine „neue Unterschicht" als Sozialgruppe der Benachteiligten und damit potentielles Klientel einer reformorientierten Kulturpolitik steht nicht vor Auf- sondern vor Abstiegen: „Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht" (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007), so lässt sich das Schicksal dieser Unterprivilegierten
der Neuen Bundesländer auf den Punkt bringen. Vor allem in der Arbeiterschaft aber auch in einer neuen unteren Mittelschicht dominieren Abstiegserfahrungen, die durch Statusverlust und hohe Arbeitslosigkeit spürbar werden. Während die Kulturpolitikreform der 1970er-Jahre im Westen auf der Eröffnung von Perspektiven für bis dahin Benachteiligte basierte, treffen die Reformmodelle der Soziokultur im Osten „untere" Gruppen mit ausgeprägter Perspektivlosigkeit, vor allem aber mit großer Enttäuschung über den Vorgang der Vereinigung. Aufbruch und Eröffnung von Perspektiven hat die deutsche Einheit für Mittelschichten gebracht. Von Oberschichten konnte neben dem politischen Funktionärstum einer Nomenklatura in der DDR nicht die Rede sein. Auch die aber sind eher abgestiegen, zumindest was ihren Status und ihre Anerkennung betrifft. Nutznießer der deutschen Einheit sind also Mittelschichten, d.h. bildungsnahe Gruppierungen, die auch in den traditionellen Kulturformen dominieren. Sie sind die Akteure und Nutzer der soziokulturellen Reformmodelle, die sie als freies Betätigungsfeld neben der etablierten Kultur nutzen. Eine Umverteilungs- und Ausgleichskomponente der neuen kulturpolitischen Formen, wie sie die Soziokultur in der westlichen Tradition darstellen sollte, aber kaum jemals wirklich dargestellt hat, kommt daher in den neuen Bundesländern in ähnlicher Weise, wenn auch aus anderen Gründen wie im Westen, vermutlich deutlich zu kurz. An einigen ausgewählten demographischen Aspekten kann das deutlich gemacht werden.

 

3. Demographische Entwicklungen in den neuen Bundesländern

Das bestimmende demographische Phänomen der Neuen Bundesländer ist das der Schrumpfung, d.h. des Bevölkerungsrückganges in fast allen Landesteilen, vor allem aber in den ländlichen Räumen. In ihren gravierenden quantitativen Ausmaßen ist diese Schrumpfung aber nicht Folge der in der Regel vorrangig diskutierten demographischen Faktoren von Geburtenrückgang und Ausdehnung des Lebenserwartung, als von steigendem Alter, sondern des dritten demographischen Faktors, der häufig nicht hinreichend gewürdigt wird, der Wanderung, und diese ist in den neuen Bundesländern beträchtlich.

Wanderungen werden in der Regel durch Wohlstandsgefälle ausgelöst und vollziehen sich von ärmeren hin zu reicheren Regionen. In seltenen Fällen sind Naturkatastrophen der Auslöser. In Zukunft dürfte deren Bedeutung für Wanderungsbewegungen zwar wachsen, in den innerdeutschen Wanderungen, um die es hier geht, spielen sie aber keine Rolle, genau so wenig wie kriegerische Konflikte mit entsprechenden Flüchtlingsströmen, die meist unser Bild von Wanderungen bestimmen, in ihrer Bedeutung aber auch hinter Wohlstandsgefällen zurückbleiben.

Für das vereinigte Deutschland ist nun ein solches Wohlstandsgefälle eklatant, wie die Verteilung des Indikators „Kaufkraft" deutlich zeigt (Statistisches Bundesamt 2008, nach Paepke 2010:15). In keiner Region Ostdeutschlands wird der Durchschnitt der gesamtdeutschen Kaufkraft erreicht. Sehr häufig liegt sie beträchtlich darunter, während sie in den westdeutschen Ballungsräumen Hamburg, Köln/Düsseldorf, Frankfurt/M., Stuttgart und München deutlich über dem Durchschnitt liegt. Die Differenzen zwischen den schwächsten ostdeutschen und den stärksten westdeutschen Regionen dürften dabei das Fünf- bis Zehnfache ausmachen, auch wenn verfügbare Statistiken nur annähernde Verdoppelungen dieses Indikators im Westen gegenüber dem Osten ausweisen.

Derartige Gefälle führen unweigerlich zu Wohlstandswanderungen, besonders wenn sie wie im Fall Deutschlands als innernationale Wanderungen ohne Überwindung gravierender nationaler, sprachlicher oder natürlicher Grenzen möglich sind. Nur Berlin und besonders sein Umland, der so genannte „Speckgürtel", sowie die Zentren Leipzig und Dresden, in geringerem Umfang auch Magdeburg, Erfurt und Jena weisen Einwohnerzuwächse auf. Alle anderen Regionen der Neuen Bundesländer sind von stellenweise gravierenden Einwohnerverlusten geprägt.

Besonders dramatische Ausmaße nehmen diese Verluste in den ländlichen Räumen, in Küsten- und in Grenznähe zu Polen an (Hänsgen u.a. 2010:24). Dabei unterscheiden sich die Abwanderungen aus den nördlichen Bundesländern vermutlich etwas von denen der südlichen, Sachsen und Thüringen. Im Norden dominieren die Fernwanderungen, also die in den Westen, während die Abwanderungen aus den Schrumpfungsgebieten im Süden vermutlich nennenswerte Anteil von Nahwanderungen, also von Wanderungen in benachbarte Zentren Dresden, Leipzig, Jena und Erfurt enthalten, die zu landesinternen Polarisierungen von Wachstum und Schrumpfung besonders im Bundesland Sachsen führen (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2006:90).

Im ländlichen Raum, der den bei weitem größten Anteil an Fläche und Einwohnerzahl der neuen Bundesländer umfasst, zwingen diese Abwanderungen inzwischen zur Planung von Siedlungsauflösungen, zumindest zu einer Reduktion der so genannten „zentralen Orte", also von Mittelstädten mit weitgehend vollständiger Infrastruktur. Damit verlängern sich die Wege, die die verbleibende Bevölkerung zu „zentralen" Einrichtungen wie Schulen, Ärzten, einem vollständigen Einzelhandelsangebot etc. zurücklegen muss. Diese Verschlechterung der Lebensbedingungen, und als etwas anderes kann das nicht verstanden werden, wird neuerliche Abwanderungen zur Folge haben, so dass ganze Regionen der Neuen Bundesländer in eine Abwärtsspirale geraten, die bisher nicht durchbrochen werden kann. Besonders hart betroffen sind Städte, die durch die zentralistische Wirtschaftsplanung der DDR in kürzester Zeit von kleinen Ortschaften zu mittelgroßen Industriestädten ausgebaut wurden, wie z.B. Hoyerswerda, Schwedt, Guben, Eisenhüttenstadt, Bitterfeld. Sie werden vermutlich nach Auflösung der jeweiligen Industriekombinate bis auf die Einwohnerzahlen zurückgehen, die sie vor dieser Industrialisierung aufwiesen.

Problematisch und tendenziell bedrohlich ist nun der wanderungsbedingte Bevölkerungsrückgang nicht nur wegen der pauschalen Bevölkerungsverluste. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass Wanderungen immer selektiv verlaufen. Das bedeutet, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Umfang abwandern. Es sind vor allem die Aktiven, die Jüngeren, gut Ausgebildeten und – in den neuen Bundesländern – vor allem die Frauen, also gut ausgebildete, jüngere Frauen, die abwandern, und zwar in der Regel in die westdeutschen oder zumindest in die ostdeutschen Dienstleistungs- und Bildungszentren (Hänsgen 2010:23).

Die Ursachen für diese Wanderungsselektionen sind durchweg bekannt. Sowohl das Schulsystem der DDR als auch das einer Nachwendezeit in den neuen Bundesländern war auf Geschlechtergerechtigkeit angelegt, suchte also die traditionelle Benachteiligung von Mädchen zu verhindern, führte auf diesem Wege aber in der Tendenz zu einer Benachteiligung der Jungen. Inzwischen stellen die Mädchen 60% der Schulabgänger mit Abitur, die Jungen 40%. Zudem drängen die Mädchen eher in moderne Dienstleistungsberufe, die, wenn schon nicht frauentypisch, so doch zumindest frauengemäßer sind, während die Jungen an traditionell männliche Berufsbilder gebunden zu sein scheinen, also an technisch geprägte Berufe industrieller Produktion, die jedoch durch De-Industrialisierung quantitativ reduziert sind und in Status und Anerkennung massiv verloren haben. Dienstleistungsarbeitsplätze finden sich aber in den Metropolen, vor allem den westdeutschen, die damit zu primären Wanderungszielen der jungen Frauen werden.

Und ein weiterer Faktor, der bislang eher übersehen wurde, dürfte für dies geschlechtsspezifische Wanderungsverhalten von Bedeutung sein, der „Heiratsmarkt" oder die Partnersuche. Junge Frauen tendieren in Deutschland dazu, Lebenspartner zu suchen, die ihnen im Status zumindest gleich gestellt sind, eher noch über ihnen stehen. Sie orientieren sich in ihrer Partnerwahl also sozial nach „oben". Bei einer Dominanz der Mädchen im weiterführenden Schul- und Bildungswesen sind diese statushöheren jungen Männer aber schwer zu finden, so dass es als probates Mittel erscheint, in ein Bildungs- und Dienstleistungszentrum, vorrangig in ein westdeutsches umzuziehen, da die Wahrscheinlichkeit, einen als angemessen empfundenen Lebensgefährten zu finden, dort deutlich höher liegt, vor allem, weil junge Männer – in Deutschland – durchaus dazu neigen, Mädchen und junge Frauen mit etwas niedrigerem Sozialstatus als Partnerinnen zu wählen. Der Wegzug der jungen Frauen aus den ostdeutschen Schrumpfungsgebieten kommt also durchaus einer Ablehnung dort beheimateten jungen Männer gleich und wird wohl auch so empfunden. Diese orientieren sich zum Ausgleich auf sehr junge Mädchen, so dass besonders in den Schrumpfungsgebieten die Zahl der Tean-Age-Schwangerschaften dramatisch angestiegen ist, in der Sozialpolitik immer ein deutlicher Indikator für Krisenphänomene. Darüber hinaus kompensieren die Angehörigen der „neuen" ostdeutschen Unterschichten ihre Missachtung durch Männlichkeit betonendes, latent frauenfeindliches Verhalten, mit dem sie sich explizit gegen die Normen und Werte der Soziokultur stellen.

In den schrumpfenden Regionen und Städten Ostdeutschlands entsteht eine komplexe, mehrschichtige Problemlage. Es bleibt eine „Restbevölkerung" zurück, die überwiegend von den Faktoren „männlich, alt oder zumindest älter und schlecht qualifiziert, niedriger Bildungsstand" und vor allem von Enttäuschung, Abstiegserfahrung, Status- und Anerkennungsverlust geprägt ist. Eine Arbeiterelite aus den großen Industriekombinaten und LPGs – auch der berühmte „Traktorist" als Industriearbeiter in der Lebensmittelindustrie der Landwirtschaft konnte sich zu dieser Arbeiterelite rechnen – steigt ab zu einer in mehrfacher Hinsicht benachteiligten „neuen" Unterschicht. In ihr bestimmen hohe Arbeitslosigkeit, unqualifizierte Arbeitsplätze und vor allem, als nicht zu unterschätzendes Krisenphänomen, ein deutlicher Männerüberschuss besonders bei in den jüngeren Jahrgängen den Alltag. Für die Jüngeren dieser Unterschicht lässt sich das pointiert formulieren: „Kein Job und keine Frau!"

Diese neue Unterschicht, in der die Erinnerung an eine Position als Arbeiterelite noch lebendig ist, kompensiert ihre Benachteiligung durch Überbetonung von Männlichkeit, Projektionen von Stärke in nationalistischen Bildern, in körperfeindlicher Selbstdestruktion, z.B. in Form von Alkoholexzessen, und in Rückzug aus der Öffentlichkeit, in die Nischen des Privaten, die bereits in der DDR als Refugien vor einer ungeliebten Staatsmacht den Alltag bestimmten.

Diese Gemengelage von Benachteiligung und Kompensation, die neuerliche Benachteiligung durch Missachtung ziviler Verhaltens- und demokratischer Politikformen nach sich zieht, findet sich nicht nur in den extremen Schrumpfungsregionen, sondern auch in einem neuen städtischen Proletariat, das innerhalb des eigenen Milieus die gleichen Abstiege und Stigmatisierungen erlebt, wie die neue ländliche oder kleinstädtisch-provinzielle Unterschicht. In den notorischen Hooliganausschreitungen bei Fußballspielen bekannter ostdeutscher Clubs zeigt sich dieses Milieu in aller Deutlichkeit, genau so wie in den neo-nazistischen Aufmärschen, von denen besonders die ökonomisch schwachen Regionen der neuen Bundesländer in deprimierender Regelmäßigkeit heimgesucht werden.

Statistiken weisen diese Zusammenhänge sehr deutlich nach: Je höher vor allem der Männerüberschuss, umso höher auch ein rechtsextremes Wahlverhalten (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007:71), je unausgewogener das Geschlechterverhältnis, umso höher auch die Jugendarbeitslosigkeit vor allem unter Männern (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007:50). Selbstverständlich zeigen sich auch im Westen vergleichbare Phänomene, allerdings bei weitem nicht in den Ausmaßen, wie in den Neuen Bundesländern.

Während sich auf Grund dieser Problemkomplexe einige Regionen der Neuen Bundesländer geradezu zwingend in einer Abwärtsspirale verfangen, schlagen die zentralen Merkmale dieses Unterschichtmilieus auch in die Städte der neuen Bundesländer mit Bevölkerungswachstum durch, sehr ausgeprägt wohl z.B. in Dresden. Sie sorgen dort für eine tiefgehende soziale und politische Spaltung, da diese Zentren zugleich auch Wanderungsziele der gut ausgebildeten jungen Frauen aus den Schrumpfungsräumen sind, die den dort dominierenden Männlichkeits- und Ressentimentkultur entkommen wollten, in den Ausbildungszentren zwar eine neue weiblich geprägte Dienstleistungskultur – auf der auch die Soziokultur aufbaut – stärken, zugleich aber mit der neuen Unterschichtskultur konfrontiert bleiben. Auch das kann den Umzug z.B. in eine westdeutsche Universitätsstadt wie Tübingen, Freiburg oder Heidelberg nahe legen, in denen solche „proletarischen" Kulturen nicht existieren.

 

4. Kulturpolitische Folgen einer neuen Unterschichtentwicklung in den Neuen Bundesländern

Damit unterscheidet sich die „neue" Unterschicht der Neuen Bundesländer grundsätzlich von der der alten Bundesrepublik, auf die die Reformbemühungen in der Bildungs- und Kulturpolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren ausgerichtet war. Vor der Tradition eines weitgehenden Ausschlusses von Bildungs- und Aufstiegschancen eröffneten sich für die westdeutschen Unterschichten in den Reformbewegungen neue Perspektiven, und die Soziokultur wird dann, wie gesagt, primär zur Kultur derjenigen, die den Bildungsaufstieg vollziehen, die Chancen also nutzen. Diese westdeutschen Aufsteiger der 1960er- und 1970er-Jahre zielen auch in ihren männlichen Teilen beruflich primär auf den in diesen Jahren massiv expandierenden Bereich der Humandienstleistungen, also vor allem auf die pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und kulturellen Berufsfelder, die allerdings in ihrem Ausbau hinter den Erwartungen und hinter der Expansion der entsprechenden Ausbildungsbereiche zurückbleiben, so dass zunehmend prekäre Berufskarrieren gerade im Feld der Humandienstleistungen um sich greifen. Aus diesem Feld rekrutieren sich in den 1970er- und 1980er-Jahren sowohl die Akteure, die Betreiber als auch die Besucher der soziokulturellen Einrichtungen und Zentren, die auch als Institutionen sowohl deren Berufsbild als auch deren Berufssituation reflektieren: kommunikativ-pädagogisch ausgelegte Programme in ständig prekärer finanzieller und institutioneller Situation und in Konkurrenz zu den etablierten Kultureinrichtungen eines traditionellen Bürgertums.

In den neuen Bundesländern dagegen, in denen durch die DDR-Politik eine Unterschicht im westlichen Sinne nicht existierte, die Arbeiterschaft als Unterschicht von einer Arbeiterelite abgelöst war, die als die eigentlich staatstragende Gruppe galt, bildet sich diese Unterschicht erst nach der Wende neu heraus, dies aber nicht vor dem Hintergrund traditioneller Exklusion wie im Westen vor den Reformen, sondern als Abstiegserfahrung mit den entsprechenden Ressentiments. In Kompensation zu diesen Abstiegen entwickeln die neuen Unterschichten der ehemaligen DDR habituelle Formen, in denen Werte und Verhaltensformen der DDR wiederaufleben: Männlichkeitsrituale, militaristische Einstellungen, wie sie die DDR tief durchdrangen, technisch-materielle, anti-kommunikative Orientierungen, Selbstüberheblichkeit und Allmachtsphantasien nach dem Modell eines Proletariats als Motor der Weltrevolution, überzogene, jetzt auf den Staat oder die Nation projizierte Solidaritätsvorstellungen etc.

Diese Unterschichtenkultur, die besonders in den ökonomisch schwachen, de-industrialisierten Regionen im Alltag nicht zu übersehen ist, steht den zentralen Werten und Normen der Soziokultur denkbar ablehnend gegenüber. Die Soziokultur, in ihren eher weichen, femininen, auf Empathie und Mitgefühl basierenden Gehalten muss dieser neuen Unterschicht der Neuen Bundesländer nicht nur fremd erscheinen. Sie stellt symbolisch das Feindbild dar, gegen das es zu kämpfen gilt, eine von Mittelschicht und Humandienstleistungen geprägte, friedliche, kommunikative Kultur, die auch in den Neuen Bundesländern von Frauen dominiert wird, die sich körperfreundlich, kinderorientiert, pädagogisch und therapeutisch versteht. Bis in den Kleidungsstil lassen sich die Differenzen zwischen Soziokultur und neuer proletarischer Kultur der Neuen Bundesländer nachzeichnen. Dort Springerstiefel, Uniformen oder doch deren Versatzstücke, Schwarz als dominante Farbe, kahl geschorene Schädel, militärische Aufmärsche als öffentliche Selbstdarstellung; hier, in der Soziokultur weiche Stoffe und Schuhe, weite Pullover, überwiegend Naturfarben, selten oder nie hartes Schwarz oder Weiß, quasi „natürliche" Frisuren mit immer eher längerem, „fallendem", weichem Haar, hochkommunikative, diskussionsfreudige Tagungen als öffentliche Manifestationen. In der Selbstpräsentation bestimmen in der Soziokultur Frauen und Kinder das Bild, Männer halten sich im Hintergrund, während in den Selbstdarstellungen der neu-proletarischen Kultur Männer absolut dominieren, selten Frauen und niemals Kinder auftauchen. Sie taugen offenbar nicht für den „Kampf", zu dem sich dieses Milieu berufen fühlt. Zwar wäre es sicher verfehlt, die gesamte „neue" Unterschicht der Neuen Bundesländer einem rechts-extremen, neo-nazistischen Milieu zuzuschlagen. Sicher scheint aber zu sein, dass dieses Milieu doch in vieler Hinsicht Normen repräsentiert, die mehr oder weniger latent von einer Mehrheit der neuen Unterschicht geteilt werden.

 

5. Unterschiede und Gemeinsamkeiten ost- und westdeutscher Soziokultur

Damit wird für die Neuen Bundesländer das erkennbar, was auch im Westen die Geschichte der Soziokultur geprägt hat. Die tatsächlich Unterprivilegierten, die Angehörigen einer aktuellen Unterschicht werden nicht oder nur in Ausnahmefällen erreicht. Diese politische Zielsetzung, die im Westen klar formuliert, aber auch im Osten nicht ganz ohne Bedeutung war, scheitert komplett. Zugang zur neuen Kulturform der Soziokultur finden im Westen die Aufsteiger aus der Bildungsreform nach vollzogenem Bildungsaufstieg, wenn eventuell auch vor prekären Berufsbiographien überwiegend in den Humandienstleistungen. Und zu diesem Milieu sind die aktuellen Nutzer – und Betreiber – der Soziokultur auch in den Neuen Bundesländern zu rechnen. Auch hier dominieren Angehörige von Humandienstleistungen mit durchweg mittleren bis guten Bildungsgängen, aber unsicheren Berufskarrieren. Sozialstatistisch gleichen sich also die Benutzer- und vermutlich auch die Akteursgruppen in Ost und West weitgehend (Göschel u.a. 1995).

Diese Gruppen könnten aber in den Neuen Bundesländern weniger durch Aufstieg aus verschiedenen Bereichen von Unterschichten als vielmehr durch eine Emanzipation vom bevormundenden Staat bestimmt sein. Es könnte sich also um „Statusaufsteiger" handeln, um Angehörige mittlerer sozialer Schichtungen in Dienstleistungs- und Kulturberufen mit geringer Anerkennung und geringem Status in der DDR, vor allem aber unter einer gravierenden Zensur und Überwachung zur Zeit der DDR. Während sich in der westlichen Soziokultur also eine vollzogene Emanzipation von sozialer Benachteiligung formuliert, könnte sich in der ostdeutschen Soziokultur die in der Wende durchgesetzte Emanzipation vom bevormundenden, kontrollierenden und zensierenden Staat ausdrücken. In einer zivilgesellschaftlich geprägten Alltagskultur der Anteilnahme, Kommunikation und lebensweltlichen Einbindung von Kultur, in einer Distanzierung zu den institutionellen Zwänge und Dogmen der DDR-Kulturpolitik haben sich in der ostdeutschen Soziokultur Formen durchsetzen können, die der westdeutschen Soziokultur durchaus ähnlich sind und auch von einem ähnlichen Milieu getragen werden, das jedoch in den beiden Landesteilen auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Erinnerungen basiert. Während in den neuen ostdeutschen Unterschichten

Elemente der untergegangenen DDR kompensatorisch aufgewertet werden, stellt die ostdeutsche Soziokultur die Kulturform einer Mittelschicht dar, die in der DDR abgewertet war, jetzt aber eine zumindest partielle Aufwertung erlebt hat und insofern den Aufsteigern im Westen als den Trägern der dortigen Soziokultur ähnlich ist. Beide verbindet darüber hinaus die Kritik marktförmiger, kommerzieller Kulturproduktion und Kulturrezeption, da beide Milieus auf staatlich getragenen Humandienstleistungen als Berufsfelder setzen bzw. gesetzt haben. Damit haftet dieser Soziokultur aber aus der Sicht neuerer, am Kulturmanagement und Kulturmarkt orientierter Akteure auch etwas sehr Biederes, Rückwärtsgewandtes, etwas sehr „Deutsches" an.

Deutlicher noch als im Westen aber wirkt in den neuen Bundesländern die Soziokultur nicht im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit oder als Kultur bildungsferner Gruppen, die als „neue Unterschichten" zu kennzeichnen wären. Deren Normen und Orientierungen widersprechen denen der Soziokultur diametral. Sie tun es so deutlich, dass dieser Reformanspruch kaum noch nachvollzogen werden kann. Zudem gehörte eine entsprechende Kulturpolitik so zentral zu den kulturpolitischen Dogmen der DDR, dass die „neuen" Mittelschichten der Neuen Bundesländer in ihrer Emanzipation von dieser Vorwendegeschichte solche Ziele nicht mehr akzeptieren können, auch wenn sie damit Gefahr laufen, ein sehr drängendes bildungs- und sozialpolitisches Ziel, die Integration extrem Benachteiligter aus den Augen zu verlieren.

Damit bestätigt sich eine Einsicht der Kulturtheorie. Kunst und Kultur sind keine Erziehungsinstrumente oder verteilbare Werte. Hier irrten westdeutsche Reformpolitik und DDR-Kulturpolitik. In Kunst und Kultur werden die Werte und Normen bestimmter Milieus, Schichten oder Klassen zum Ausdruck gebracht. Soziokultur repräsentiert in diesem Sinne ein „Selbstverwirklichungsmilieu" (Schulze 1992) von Humandienstleistungsberufen, angesiedelt in einer mittleren sozialen Lage, auf der Basis relativ guter Bildungsgänge aber mit ungesicherten, teils prekären Berufskarrieren. Diese Gruppen konzentrieren sich in den Neuen Bundesländern in den wenigen Dienstleistungs- und Bildungszentren. Die Unterschiede zwischen ost- und westdeutscher Soziokultur liegen in den unterschiedlichen historischen Erfahrungen der entsprechen Bevölkerungsgruppen in den beiden Landesteilen: im Westen eher die Erinnerung an reforminduzierten Aufstieg aus Benachteiligung, im Osten die Erfahrung einer Befreiung von einem kontrollierenden, zensierenden und bevormundenden Staat. Damit wäre verständlich, warum im Westen eine bildungs- und sozialpolitische Komponente noch von Bedeutung sein könnte, während im Osten die Befreiung von institutionellen Zwängen, die Informalität und Selbstbestimmung deutlich dominieren. Entsprechend unterschiedlich könnte auch der Gemeinwesenbezug verstanden werden: Im Westen als bildungspolitische Methode, im Osten als Garantie von Selbstbestimmung. Aber beide Seiten könnten sich vermutlich in der Vorstellung treffen, dass es sich beim Gemeinwesenbezug um eine Abwehr von Entfremdung handeln soll, auch wenn diese Form der lebensweltlichen Einbindung von Kunst und Kultur die Soziokultur in einen Gegensatz sowohl zu den bestimmenden professioneller Kunstdebatten um „autonome Kunst", als auch zur Brillanz und Schnelligkeit moderner kommerzieller Kunstproduktion z.B. der Pop-Kultur versetzt.

 

[1] Ein herausragendes Dokument der Kritik an dieser Verteilungsungerechtigkeit kultureller Werte stellt der große Roman von Peter Weiß „Ästhetik des Widerstandes" dar (Weiß 1982). In der Kulturtheorie hat vor allem Pierre Bourdieu die Ungleichheit kultureller Partizipation als Element moderner Klassenherrschaft herausgearbeitet (Bourdieu 1983). Neuere Kulturtheorie hat allerdings gegen diese Konzepte von symbolischer Herrschaft auch massive Einwände erhoben und z.B. auf die Parallelität und Unabhängigkeit milieuspezifischer kultureller Formen hingewiesen, die Distinktionswirkung von Kunst und Kultur also eher bezweifelt (z.B. Schulze 1992; 2011). Dass in Gesellschaften wie der deutschen, die gegenwärtig wieder von wachsenden Ungleichheiten geprägt ist, kulturelle Distinktionsvorgänge keine Rolle mehr spielen sollten, erscheint allerdings sehr unwahrscheinlich, auch wenn sich diese Unterscheidungsleistungen möglicherweise von „Kunst und Kultur" auf andere Felder z.B. der digitalen Welt oder des Wohnens in der unterschiedlichen Städten oder Stadtvierteln verlagert haben könnten.

 

 

Download des Beitrags als pdf hier: